Wahr oder wirklich?

Von Christa Küppers

 

Gibt es denn keine Kinderbücher, die mit Fotografien bebildert sind? So scheint es. Die erzählende Literatur für Kinder ist voller Bilder, aber die Suche nach fotografisch illustrierten Kinderbüchern bleibt ergebnislos: außer dem betagten Esel Benjamin und Pondus, dem ebenso alten Pinguin – nichts. Fotos gibt es praktisch nur im Sachbuchbereich. Warum? Hier mein Versuch einer Antwort.

Fotografiertes als Illustration

Im Jahr 2014 fand im Carlswerk in Köln Mülheim eine Ausstellung für und mit Photobüchern aller Art statt. (The Photobookmuseum)
Jennifer Crowley schreibt auf der website:

Photobook_Kids widmet sich Kinderbüchern mit Fotografie – ein Aspekt des Fotobuchs, der noch wenig Beachtung gefunden hat. Auffällig ist, dass fotoillustrierte Kinderbücher vor allem in den 1960er bis 1980er Jahren entstanden. Edward Steichens The First Picture Book (1930) mit Texten von Mary Steichen Calderone und John Updike oder Hans Limmers Mein Esel Benjamin (1968) mit Fotografien von Lennart Osbeck sind mittlerweile Klassiker des Genres.

Auch bei der Internetrecherche, beim Gespräch mit erfahrenen Buchhändlern, beim Stöbern in Antiquariaten läuft uns Benjamin immer wieder über den Weg. In diesem Buch wird mit ganzseitigen schwarzweiß-Fotografien eine Geschichte illustriert: Das kleine Mädchen Susi lebt mit Eltern, Schwester und Katze in einem Dorf am Mittelmeer. Eines Tages rettet sie mit ihrem Vater ein Eselsfohlen aus einer Felsspalte. Sie nehmen das Tier mit nach Hause und ziehen es mit der Flasche auf.
Wie Susanne Schäfer-Limmer in einem Artikel selbst berichtet, hatten sie und ihr Vater den Esel tatsächlich auf Rhodos gefunden, als sie zwei Jahre alt war. Die Familie lebte dort. So ist dieses Buch (vermutlich) eine Mischung aus Dokumentation und Fiktion. »Wahr ist eine Geschichte dann, wenn sie hätte passieren können.« schrieb Erich Kästner. Der Bericht über den Esel wird durch die Verwendung von Fotografien im Kästnerschen Sinne wahr, auch in den fiktiven Teilen.

Weiter heißt es bei Jennifer Crowley:

Seit den 1980ern „wurde die Fotografie im Kinderbuch wieder nach und nach von der Zeichnung abgelöst,“ ist die Beobachtung der Kuratorinnen Verena Loewenhaupt und Thekla Ehling. Dabei können Kinderbücher mittels Fotografie interessante Dinge und Lebenswelten zeigen, die in der Ferne liegen. Sie zeigen aber auch, dass es vor der eigenen Türe, im Alltäglichen, viel zu entdecken gibt, wenn wir nur genau hinsehen.

Aus der Formulierung »mittels Fotografie interessante Dinge zeigen« ist ablesbar, dass es sich bei den gezeigten Büchern wiederum um Sachthemen handelt. Von erzählender Literatur spricht die Ausstellung nicht.

Scheinbar dokumentarisch

Auch die Reihe Pondus, 1968 bei Carlsen/Reinbecker erschienen, versucht das Erzählen mit Fotografien.

Pondus, ein Pinguin, lebt im Zoo. Pondus fragt zum Beispiel seinen Wärter Paule: Darf ich heute zu den Affen gehen? »Ja«, sagt Paule, »aber wir gehen gemeinsam. Einen Augenblick noch: Ich binde dir einen Wollschal um den Hals. Es ist heute kalt.«
Der Text erzählt eine erfundene Geschichte, durch die Fotografien behauptet das Buch, das dies alles in Wahrheit so geschehen sei.

Der Pinguin Pondus hatte real den roten Schal um und stand real vor dem realen Paule, sonst hätte das Foto nicht entstehen können. (Dass inzwischen durch raffinierte Bildbearbeitungssoftware auch das nicht mehr stimmt, soll an dieser Stelle unberücksichtigt bleiben.) Die Wahrheit zeigen die Fotos trotzdem nicht, sie beweisen lediglich Ort und Kleidung des Vogels zum Zeitpunkt der Aufnahme. Armer Pinguin! Womöglich heißt er auch garnicht Pondus, sondern Erik, und wünscht sich an den Südpol zurück. Das Reale in den Fotografien macht es schwer bis unmöglich, die erzählte Geschichte wahrzunehmen. Sie bleibt unglaubwürdig.

Bei gezeichneten Illustrationen drängt sich die Frage nach der Glaubwürdigkeit nicht auf. Das Bild bleibt in der Fiktion – so wie der Text. Wenn die Maus ins Schwimmbad geht, zieht sie sich die Schwimmflügelchen über. Sicher ist sicher.

Begriffsunschärfe

Das Wort Illustration trägt zwei verschiedene Bedeutungen: In der Entstehungszeit des Wortes waren Illustrationen Bilder, die in Bücher gemalt wurden. Deshalb beschreibt das Wort heute die Technik, mit der ein Bild entstanden ist; mit Stift, Pinsel, Airbrush, Schere und Klebstoff, und heutzutage auch mit Software. Ein Foto kann dazu als Ausgangsmaterial dienen, wird aber unbearbeitet nicht als Illustration bezeichnet.

Und man beschreibt mit dem Wort die Funktion einer Abbildung in einem Text:

Einer Zielgruppe soll eine Botschaft in einem bestimmten Kontext vermittelt werden. Es besteht also ein objektiver Bedarf, eine bestimmte Aufgabe zu erfüllen…  (Alan Male in „Illustration“ 2007)

Es gibt keinen Grund zur Annahme, dass Fotografiertes dieser Aufgabe generell nicht gewachsen ist, auch nicht für die Zielgruppe der Leseanfänger oder Noch-Nicht-Leser. Jedoch hat fotografisch festgehaltene Realität in diesem Zusammenhang ein gespaltenes Image.
Unbestritten ist, daß die Kamera nur physisch Vorhandenes aufzeichnen kann. Diesen Teil der erfahrbaren Welt bezeichne ich an dieser Stelle als „Realität“. Über diesen Begriff und seine Relation zur Fotografie existieren etliche hochintelligente Veröffentlichungen. Susan Sonntag (Über Fotografie/ In Platos Höhle) schreibt:

Fotos liefern Beweismaterial. Etwas, wovon wir gehört haben, woran wir aber zweifeln, scheint »bestätigt«, wenn man uns eine Fotografie davon zeigt. (…) Eine Fotografie gilt als unwiderlegbarer Beweis dafür, dass ein bestimmtes Ereignis sich so abgespielt hat.

Das Foto dokumentiert einen Ausschnitt der Realität. Dass dies in Kinderbüchern nicht goutiert wird, liegt aber nicht an der Realität oder am Medium Fotografie, sondern an unserem Blick darauf. Dokumentarische Fotos macht jedermann. Selfie, Urlaubsfotos, das neue Auto, Oma beim 80. Geburtstag und so weiter. Was jeder macht, ist nichts Besonderes, also nicht wertvoll genug, in einem Buch verewigt zu werden. Der Zeichnung aber, dem Gemälde wird von vornherein Ehrerbietung entgegengebracht. Die allermeisten Menschen sagen von sich selbst: Zeichnen kann ich nicht. Die nichtfotografierte Illustration erfährt deshalb im gleichen Maß Vorschußlorbeeren, wie die Fotografie Minuspunkte – ungeachtet der gestalterischen Qualität und der Tauglichkeit für die Aufgabe, einer Zielgruppe eine Botschaft in einem bestimmten Kontext zu vermitteln.

Der Aufwand

Dazu kommt: Ein drucktaugliches Foto zu machen, erfordert einen hohen Aufwand. Nicht nur technisch (z.B. Licht), sondern auch im Denken. Die gezielte Auswahl der Personen oder Gegenstände, die auf dem Foto zu sehen sein sollen, ihre Farben, die Anordnung, Aufnahmestandpunkt… vieles muss bedacht werden, damit das Foto am Ende den Vorstellungen des Fotografen entspricht. Und es ist ja mit einem Bild nicht getan, die Entwicklung einer Geschichte erfordert eine sinnvolle Reihe von Bildern. Wie beim Esel Benjamin. Dieser Aufwand also mag auch ein Grund sein, warum Verlage diesen Weg zur Bebilderung nicht gehen.

Als der Staunerverlag beschloss, die Geschichte von Wim und seiner Mama herauszugeben, war die Entscheidung für die Gestaltung mit fotografierten Bildern schnell getroffen. Wims Bilderwelt ist eine ganz und gar phantastische, die sich aber ganz und gar aus seiner Betrachtung der Wirklichkeit speist. Der Rüssel des Staubsaugers, die Flügelohren des Elefanten: das ist Wims physisch vorhandene Realität, die er in seinem Wörterbuch sammelt und beschreibt. Dass seine Mutter in einer anderen Realität lebt – obwohl es dieselbe ist – das kann man bedauern, aber man muss es akzeptieren.

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